Kreativität ist ein faszinierendes menschliches Potenzial. Sie zeigt sich in Kunst, Musik, Schreiben, Kochen, Handwerk, Wissenschaft und vielen anderen Bereichen. Oft wird Kreativität als Gabe betrachtet – etwas, das manche einfach haben und andere nicht. Doch aktuelle Forschung legt nahe: Kreativität ist weniger ein angeborenes Talent als vielmehr eine Fähigkeit, die sich entwickeln lässt. Ein entscheidender Schlüssel dazu könnte Empathie sein – genauer gesagt: kognitive Empathie, also die Fähigkeit, sich bewusst in andere hineinzuversetzen.
Zusammenhänge von Kreativität und der kognitiven Seite von Empathie

Eine aktuelle Studie der Universität Wien in Kooperation mit chinesischen Forschungseinrichtungen (Pelowski et al., 2025) zeigt, dass kognitive Empathie in direktem Zusammenhang mit alltäglicher Kreativität steht. Menschen, die regelmäßig versuchen, die Perspektive anderer einzunehmen, sind laut der Studie nicht nur kreativer, sondern verwirklichen ihre kreativen Ideen auch häufiger.
Diese Form der Empathie – auch als perspektivisches Denken bezeichnet – unterscheidet sich von emotionaler Empathie. Letztere beschreibt das Mitfühlen und emotionale Miterleben des Leids oder der Freude anderer. Während emotionale Empathie wichtig für Mitgefühl und soziale Verbundenheit ist, zeigte sie in dieser Untersuchung keinen Zusammenhang mit erhöhter Kreativität.
Die Studie im Überblick
Die Forschung basiert auf Daten des „Gene-Brain-Behavior Project“, einer groß angelegten Längsschnittstudie in China. Über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren wurden Daten zu Empathie, Kreativität und anderen Persönlichkeitsfaktoren erhoben. Die Wissenschaftler:innen untersuchten sowohl:
- Alltagskreativität („little c“): Tätigkeiten wie Gärtnern, Schreiben, Basteln, Rezepte entwickeln, Videos produzieren oder wissenschaftliche Theorien hinterfragen.
- Kreative Spitzenleistungen („Big C“): Nachweisbare Erfolge in Bereichen wie bildende Kunst, kreatives Schreiben, wissenschaftliche Entdeckungen, Erfindungen oder Kulinarik.
Das zentrale Ergebnis: Wer sich gut in andere hineinversetzen kann, zeigt nicht nur mehr kreative Aktivität im Alltag, sondern erzielt auch häufiger nachweisbare kreative Erfolge – zum Beispiel durch Veröffentlichungen, künstlerische Werke oder innovative Ideen.
Warum emotionale Empathie nicht genügt
Eine überraschende Erkenntnis der Studie ist, dass emotionale Empathie – das intensive Mitfühlen mit anderen – nicht mit höherer Kreativität korreliert. Das mag zunächst widersprüchlich erscheinen, da Kunstwerke oft starke emotionale Reaktionen auslösen und viele Künstler:innen als besonders feinfühlig gelten.
Der Hauptautor der Studie, Dr. Matthew Pelowski von der Universität Wien, vermutet, dass emotionale Empathie auch belastend sein kann. Wer viel mitfühlt, besonders in verantwortungsvollen oder fürsorglichen Rollen, hat möglicherweise weniger Kapazitäten für kreative Konzentration. Kreatives Arbeiten erfordert oft Ruhe, Rückzug, Reflexion und Spiel mit Ideen – Fähigkeiten, die stärker mit kognitiver als mit emotionaler Empathie verbunden sind.
Wie du deine kreative Empathie fördern kannst
Die gute Nachricht: Kognitive Empathie ist erlernbar. Sie lässt sich im Alltag durch einfache Übungen stärken:
- Lies Romane oder sieh Filme bewusst mit der Frage: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich an der Stelle dieser Figur wäre?
- Führe Gespräche mit Menschen aus anderen Lebensrealitäten – nicht, um zu überzeugen, sondern um zu verstehen.
- Übe Achtsamkeit: Wer mit sich selbst präsent ist, kann auch andere klarer wahrnehmen – ohne Bewertung, aber mit Neugier.
- Schreibe Perspektivwechsel-Geschichten: Setze dich schriftlich in die Lage einer anderen Person – das trainiert Einfühlung und erweitert deinen Blickwinkel.
Diese Übungen schärfen nicht nur dein Einfühlungsvermögen, sondern eröffnen auch neue Denkwege – ein entscheidender Faktor für kreatives Schaffen.
Kognitive Empathie als kreativer Motor
Die Erkenntnisse der Studie legen nahe: Wer neue Ideen entwickeln will, sollte die Welt durch andere Augen sehen lernen. Kognitive Empathie fördert kreatives Denken, künstlerischen Ausdruck und innovative Lösungen. Sie erweitert den geistigen Horizont, fördert Offenheit und ermöglicht Perspektiven, die über das eigene Erleben hinausgehen.
In einer Zeit, in der kreative Lösungen für gesellschaftliche, ökologische und persönliche Herausforderungen gefragt sind, ist diese Fähigkeit wertvoller denn je. Perspektivwechsel ist nicht nur ein sozialer Akt – er ist auch eine Quelle von Kreativität und innerem Wachstum.
Wissenschaftliche Quellen
- Pelowski, M., et al. (2025): Empathy and Everyday Creativity: Evidence from a Longitudinal Gene-Brain-Behavior Study in China. Universität Wien & Partnerinstitutionen.
- Jill Suttie (2025): Can Empathy Help You Be More Creative? Greater Good Magazine, UC Berkeley.
https://greatergood.berkeley.edu/article/item/can_empathy_help_you_be_more_creative